Fuchsfeuerwild
Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers nach Rio Grande do Sul
Von Friedrich Kniestedt, Vorwort von René E. Gertz, Nachwort von Tim Wätzold.
Hamburg: verlag barrikade (Reihe "Anarchistische Erinnerungen"), 2013. Broschur, 230 Seiten. ISBN 978-3921404027.
Beschreibung:
Erinnerungen eines deutschen Anarchisten, der aus Preußen nach Brasilien übersiedelt und dort die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung und später den Kampf gegen die Nazis in Porto Algere bekämpft.
Erläuterter Nachdruck der Erinnerungen Friedrich Kniestedts aus der seiner Artikelserie der deutschsprachigen Zeitung 'Der freie Arbeiter' (Porto Alegre, Brasil) aus den Jahren 1920 bis 1936.
Vorwort
Kaiser D. Pedro II (1825-1891) regierte Brasilien von 1840 bis 1889, als er durch eine republikanische Erhebung abgesetzt wurde. Im Gegensatz zu seinem Vater, D. Pedro I, werden ihm gute Erziehung und liberale Einstellungen zugeschrieben. Er soll, ausser Portugiesisch, fliessend vier andere Sprachen gesprochen haben, und hatte dazu noch Grundkenntnisse in verschiedenen anderen. Er interessierte sich für Archäologe, Naturwissenschaften, Technik, Philosophie, und Anderes mehr.
Als solcher, zeigte er Ende der 1880er Jahre Verständnis für eine Bitte des italienischen Anarchisten Giovanni Rossi, der um die kostenlose Zuteilung einer Portion Regierungsland in der brasilianischen Provinz Paraná bat, um dort eine Gemeinde nach anarchistischen Prinzipien einzurichten. Als aber 1889 die Republik ausgerufen wurde, weigerten sich die neuen Machthaber, das Versprechen des abgesetzten Kaisers einzuhalten. Daraufhin mussten Rossi und seine Leute Geld sammeln, um das erwünschte Land zu kaufen, um die „Colônia Cecília” ins Leben zu rufen. Das Experiment überlebte nur für wenige Jahre (1890-1894), als sich die Gruppe zerstreute. Ihr Erbe bestand aber in der Hervorbringung einer gewissen Mystik über den Versuch, eine anarchistische Utopie in der brasilianischen Wildnis zu verwirklichen.
Neben dieser „anarchistischen Kolonie”, brachten besonders italienische und spanische Einwanderer anarchistische Weltanschauungen und Praktiken in erster Linie nach São Paulo, der wirtschaftlich wichtigsten Provinz Brasiliens, aber auch in andere Gegenden. Durch den Einfluss dieser Einwanderer, aber auch wegen der absoluten Aussichtslosigkeit auf politischem Wege Vorteile für die Arbeiterschaft zu erlangen, Dank des oligarchischen Systems, das damals in Brasilien herrschte, und seiner korrupten Wahlpraktiken, hatten sozialdemokratische und kommunistische Tendenzen sehr wenig Aussicht auf Erfolg. Die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichneten sich daher durch den relativen Erfolg der Anarchisten aus. Dies änderte sich nur in den 1920er Jahren, als nach der sowjetischen Revolution kommunistische Tendenzen an Boden gewannen. Der Anarchismus als traditionelle Arbeiterbewegung – man pflegte ihn als „Anarcho-Syndikalismus“ zu bezeichnen – ging zurück, überlebt aber bis heute als Doktrin und Lebensphilosophie.
Wer minimale Kenntnisse über den Anarchismus in Brasilien besitzt, denkt normalerweise an einige hervorragende Repräsentanten mit italienischen oder spanischen Namen, weil man ihn einfach mit Einwanderern dieser Herkunft identifiziert. Es ist aber interessant festzustellen, dass das wichtigste Archiv mit Materialien zur Geschichte der brasilianischen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung „Arquivo Edgard Leuenroth“ heisst, weil es von der Universität Campinas (im Bundesstaat São Paulo) auf der Basis des Privatarchivs dieses Anarchisten aufgebaut wurde. Leuenroth (1881-1968) war ein in Brasilien geborener Sohn eines deutschen Arztes, der in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an den meisten von Arbeitern in São Paulo veranstalteten Aktionen beteiligt war. Nach 1930 widmete er sich besonders der intellektuellen Tätigkeit, als Journalist, Schriftsteller und Historiker der Arbeiterschaft.
Die Geschichte des Anarchismus in Brasilien verzeichnet aber noch einen anderen Einwanderer, der einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Unter den zu nennenden Beiträgen sei hier nur die Tatsache angeführt, dass er die für dieses Land langlebigste Arbeiterzeitung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgegeben hat – es handelt sich um Der freie Arbeiter, der von 1920 bis 1930 in Porto Alegre erschienen ist, eine Zeitspranne, die keine andere Arbeiterzeitung erreicht hat. Der Mann hiess Friedrich Kniestedt.
Im Jahr 1873 in Deutschland geboren, begann er seine intensive militante Tätigkeit mit circa 15 Jahren, und hielt sie bis 1909 ununterbrochen durch. In diesem Jahr fühlte er sich enttäuscht und entschied, Deutschland zu verlassen, um in die brasilianische Idylle auszuwandern. Die Mystik über alternative Lebensformen in der Region der ehemaligen „Colônia Cecília“, im Bundesstaat Paraná, zog ihn zu dieser Zeit an, und er ging dort hin. Trotz genugtuender Erfahrungen in dieser Gegend, war er aber nicht ganz mit einigen alternativen Lebensformen, die dort manchesmal herrschten, einverstanden. Dazu kam die Konfrontation mit den Mächtigen der Region, was dazu führte, dass er 1911 nach dem Norden, in den Bundesstaat São Paulo, zog. Hier fiel er in die Hände von grossen Kaffeepflanzern und deren Ausbeutungsformen. Krankheiten bei Familienmitgliedern trugen dazu bei, dass er sich für eine Rückehr nach Deutschland entschied, wo er 1912 ankam.
Die intensive Wiederaufnahme seiner früheren Militanz führte aber zu immer schärferen Verfolgungen seitens der deutschen Behörden, bis er sich zum zweiten Mal entschied, wieder nach Brasilien zu gehen. Und 1914 kehrte er in den Urwald von Paraná zurück. Hier erlebte er eine neue idyllische Periode, bis zum Ausbruch des grössten Streiks im Brasilien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – 1917. Laut eigenen Äusserungen, wurde er von einer Art Schuld erfasst, nicht an den in den Städten geführten Kämpfen teilzunehmen. Er versuchte daher, wieder eine städtische Fabrikarbeit zu finden; fand eine Stelle als Bürstenhersteller in Pelotas, eine im Süden des Bundesstaates Rio Grande do Sul gelege Stadt. Er blieb aber nur wenige Monate dort und ging bald nach Porto Alegre, der Hauptstadt des genannten Bundesstaates, wo er bis zu seinem Lebensende (1947) blieb.
Hier nahm er seine intensive Tätigkeit in der Arbeiterbewegung wieder auf, gab während des ganzen Jahrzehnts von 1920 bis 1930 die Zeitung Der freie Arbeiter heraus. Bald wurde er einer der bekanntesten Militanten der hiesigen Arbeiterbewegung, reiste viel ins Innere des Staates, um Kontakte herzustellen und seine Ideale zu verbreiten, unterhielt Kontakt mit Gleichgesinnten in anderen Teilen Brasiliens (darunter Edgard Leuenroth) und im Ausland. Er war sowohl ein Dorn im Auge der hiesigen „deutschen Kolonie“ als auch der Regierung des Bundesstaates, was aber nicht ausschloss, bei bestimmten Gelegenheiten sowohl Initiativen der „Kolonie“ als auch der Regierung zu unterstützen. Trotz der Distanz, hielten beide ihn als möglichen Gesprächspartner.
Als 1933 die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, setzte Kniestedt noch einmal seine bekannte Energie als Kämpfer in Bewegung. Er versuchte, den Nationalsozialismus in Deutschland und seine lokalen Repräsentanten zu bekämpfen. Mit grosser Mühe gründete er eine neue Zeitung extra für diesen Zweck – Aktion. Wegen der Sympatien der brasilianischen Regierung in Bezug auf das Nazi-Deutschland, musste er von Anfang an mit grossen Schwierigkeiten rechnen, konnte das Blatt aber von 1933 bis 1937 herausgeben. Als Anfang 1937 der Druck zu gross wurde und die Zeitung von der Polizei beschlagnahmt wurde, versuchte er es mit einer Art Magazin, unter dem Namen Alarm. Als auch dies unmöglich wurde, brachte er drei Nummern einer neuen Publikation mit dem „neutralen“ Namen Das deutsche Buch heraus. Eine strategische Auflockerung seitens der Polizei vor einer definitiven Schliessung aller journalistischen Veröffentlichungen mit „subversivem“ Charakter konnte er noch einmal drei Nummern der Aktion herausgeben – die letzte mit Datum des 10. Oktober 1937. Danach war es mit seiner journalistischen Tätigkeit zu Ende.
Nachdem Brasilien und Nazi-Deutschland sich 1942 gegenseitig den Krieg erklärt hatten, konnte Kniestedt wieder zum Vorschein kommen. Er wurde offiziell als Nazi-Gegner anerkannt, wurde sogar vom Staate geehrt. Im Gegensatz zu anderen hier lebenden Deutschen und Brasilianern deutscher Abstammung, konnte er frei reisen. Nach dem Krieg konnte er dann noch einmal ein hektographiertes Mitteilungsblatt herausgeben. Ausser als Nazi-Gegner, war er in den letzten Jahren seines Lebens als Briefmarkensammler und Kanninchenzüchter unter vielen Portoalegrensern bekannt.
Während seiner zweiten Etappe als Zeitungsherausgeber, in den 30er Jahren, im Kampf gegen den Nationalsozialismus, entschied er, eine Spalte mit seinen Lebenserinnerungen zu veröffentlichen. Im Jahr 1998 wurden diese Erinnerungen in portugiesischer Übersetzung als Buch herausgegeben. Dasselbe geschieht jetz, in einer Version des Originaltextes. Obwohl nur circa ein Drittel des Textes sich mit seinem Aufenthalt in Brasilien beschäftigt, wurde die brasilianische Ausgabe wegen ihrer wertvollen Informationen von verschiedenen Historikern als wichtige Quelle begrüsst. Man kann hoffen, dass auch deutsche Historiker und andere Interessenten in der jetzigen Ausgabe nutzbare Informationen finden werden.
René E. Gertz
Diesen Artikel haben wir am 11.09.2015 in unseren Katalog aufgenommen.