espero – Libertäre Zeitschrift (Neue Folge), Nr. 9/10, Dezember 2024. |
Aus dem Editorial:
Als wir am frühen Neujahrsmorgen 2020 auf unserer Homepage mit der Nachricht Wir sind wieder da! die Wiedergeburt der Zeitschrift espero verkündeten, waren wir uns ziemlich unsicher, ob wir mit der neuen digital erscheinenden espero eine größere Leserschaft erreichen würden. Zumindest hatte die erste Folge der damals in gedruckter Form erscheinenden espero einen überschaubaren Kreis von Leser:innen erreicht, von denen allerdings nicht wenige auf unsere Ankündigung der neuen digitalen Ausgabe mit Skepsis, teilweise sogar mit Ablehnung des E-Zine-Formats reagiert hatten. Umso überraschter waren wir, als wir nur wenige Tage nach Erscheinen der Nullnummer feststellten, dass die Downloadzahlen der neuen espero von Tag zu Tag kontinuierlich anstiegen. Gleichzeitig erhielten wir in den folgenden Wochen sowohl von alten als auch von neuen Leser:innen zahlreiche Zuschriften, die uns zum Weitermachen ermunterten. Ein halbes Jahr später, als wir im Juli 2020 mit espero, Nr. 1 die erste reguläre Ausgabe auf unserer Homepage veröffentlichten, hatten sich bereits über 8.000 Leser:innen die Nullnummer von unserer Website heruntergeladen.1
Wir haben natürlich weitergemacht und freuen uns, nun unsere zehnte Ausgabe vorlegen zu können. Ein kleines Jubiläum, wenn man so will. Zählt man die erste Folge der espero mit hinzu, die von 1994 bis 2013 in gedruckter Form erschienen ist, dann gehört unsere undogmatisch-libertäre Zeitschrift espero mit zu den langlebigsten Periodika des neuen Anarchismus im deutschen Sprachraum. Ursprünglich hatten wir auf ein paar Hundert Leser:innen gehofft, und wir erwarteten sie vor allem aus dem deutschen Sprachraum. Es wurden dann aber doch deutlich mehr, als wir uns jemals erhofft hatten, und ganz besonders freut uns auch die Tatsache, dass wir mit der neuen espero auch Leser:innen in zahlreichen nicht-deutschsprachigen Ländern dieser Welt gefunden haben. Dadurch haben wir nicht selten Kontakt mit fremdsprachigen Autor:innen bekommen, deren von uns ins Deutsche übersetzte Beiträge dann später in der espero erschienen sind.
Für die Freunde und Freundinnen der Anarchie, zu denen wir unsere Leserschaft zählen, gibt es noch ein weiteres Jubiläum zu feiern: Den 100. Geburtstag von Colin Ward (1924–2010), der in den 1960er Jahren in England den modernen pragmatischen Anarchismus begründete, in dessen Tradition wir auch unsere Zeitschrift sehen. Wir freuen uns, seinen Geburtstag mit einem Aufsatz der britischen Historikerin und Colin-Ward-Biografin Sophie Scott-Brown würdigen zu können. In dieser Tradition steht auch Ulrich Klemm, der mit seinem Beitrag eine Theorie libertärer Vergesellschaftung vorstellt, indem er Überlegungen zum Anarchismus als Egalitarismus im Gegensatz zum Etatismus bündelt und für eine theoretische Diskussion fruchtbar macht.
Ein zweiter Schwerpunkt dieser Ausgabe behandelt den Israel-Palästina-Konflikt aus libertärer Sicht. Kay Schweigmann-Greve zeigt, wie Martin Buber diesen Konflikt durch ein binationales Modell der jüdisch-arabischen Kooperation zu lösen suchte. Auch der jüdisch-amerikanische Anarchist Fredy Perlman und der israelische Anarchist Uri Gordon setzen sich in ihren Beiträgen mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinander und versuchen, libertäre Ansätze zu seiner Lösung aufzuzeigen.
Der dritte Themenschwerpunkt beleuchtet die Wechselbeziehungen zwischen Anarchismus und Punk-Bewegung in unterschiedlichen politischen Kontexten. Der deutsche Politikwissenschaftler Peter Seyferth reflektiert seine persönlichen Erlebnisse in der westdeutschen Punkszene und analysiert einige ihrer Texte. Der polnische Soziologe Grzegorz Piotrowski untersucht die Rolle des Punkrock und des Rockfestivals in Jarocin für die regimekritische Mobilisierung und politische Prägung der Jugend im Polen der 1980er Jahre, und die argentinische Anarchistin und Sozialwissenschaftlerin Mariana Calandra diskutiert in ihrem Beitrag die Verbindungen zwischen der anarchistischen Bewegung und der Punkkultur in Südamerika.
Es folgt eine „bunte Mischung“ von Beiträgen zu unterschiedlichen Themen. So beschreibt Uri Gordon in einem weiteren Beitrag Leben und Werk Fredy Perlmans, den er neben Noam Chomsky und Murray Bookchin zu den drei großen Gründungsgestalten des neuen Anarchismus in den USA zählt, wie er sich dort seit den 1960er Jahren herausgebildet hat. Und es gibt auch noch einen „Nachschlag“ zu unserem Themenspecial Anarchismus und Wissenschaft in espero Nr. 8. So beschäftigt sich der libertäre Biologe Stephan Krall in seinem Beitrag explizit mit dem Naturwissenschaftler Peter Kropotkin und macht deutlich, welch großen Einfluss der russische Anarchist auf den naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit ausübte.
Tomás Ibáñez, Amedeo Bertolo und Marianne Enckell beleuchten in ihrem Beitrag die von Legenden umwobene Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „A im Kreises“, jenes weltweit ikonischen Symbols des Anarchismus, das Ibáñez vor genau sechzig Jahren in Paris „erfunden“ hat. Ein weiteres, drittes Jubiläum also, das wir mit dieser Herbstausgabe würdigen können. Ewgeniy Kasakaow, der durch seine Veröffentlichungen zur Geschichte und Gegenwart des Anarchismus in Russland, der Ukraine und Belarus bekannt ist,stellt in seinem Beitrag den russisch-georgischen Anarchisten Nestor Kalandarischwilli (1876-1922) vor, der während des Russischen Bürgerkriegs in Sibirien als Partisan agierte. Die als Doppelnummer erscheinende neue Ausgabe der espero klingt aus mit einem literarisch-philosophischen Dialog über die Theokratie als Anarchie, womit sich der Dadaismus-Experte und Hugo-Ball-Spezialist Thomas Keith auf die anarchische Hochkultur der Richterzeit im vorköniglichen Israel bezieht.
Inhaltlich beschließen wir auch diese Ausgabe mit Rezensionen aktueller Neuerscheinungen. Markus Henning stellt den Sammelband Unterwegs in die Stadt der Zukunft vor, der urbane Gemeinschaftsgärten als wichtige Orte der sozial-ökologischen Transformation von Städten beschreibt und dabei theoretische Analysen mit Fallstudien zu konkreten Gemeinschaftsgartenprojekten verbindet. Und das trifft sich gut, denn da Colin Ward als einer der herausragenden libertären Pioniere des Urban Gardening gilt, kann Hennings Rezension durchaus als ein weiterer Beitrag zu Wards 100. Geburtstag gelesen werden.
Rolf Raasch stellt David Graebers Buch Bürokratie – Die Utopie der Regeln sowie den ersten Band der Gesammelten Schriften von Bernd Kramer vor. Jan Rolletschek bespricht Olaf Brieses Anarchistisches Lesebuch, das eine Sammlung frühanarchistischer Texte aus der Zeit der deutschen Revolution von 1848/49 enthält und damit einen bislang von der Forschung nur wenig beachteten Aspekt der ideologischen Entstehungsgeschichte des Anarchismus in Deutschland beleuchtet. Maurice Schuhmann rezensiert Chiarra Botticis Anarchafeministisches Manifest, und Stephan Krall setzt sich mit Staat, Fortschritt, Anarchie, einem Sammelband mit Texten von Élisée Reclus, auseinander. In einer weiteren Rezension bespricht Krall die Neuauflage von Michael Lausbergs Werk über Kropotkins anarchistisches Denken. Schließlich stellt Jan Pauls noch den Sammelband Anarchistische Gesellschaftsentwürfe vor, in dem aus unterschiedlichen libertären Blickwinkeln die Frage diskutiert wird, wie eine herrschaftsfreie und egalitäre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gestaltet werden könnte.
Wir wünschen unseren Leser:innen eine gute Lektüre!
Das espero-Redaktionskollektiv:
in Bad Nenndorf, Berlin, Köln und Potsdam
1. THEMENSCHWERPUNKT:
COLIN WARD (1924-2010). ZUM 100. GEBURTSTAG DES PIONIERS DES PRAGMATISCHEN ANARCHISMUS [13]
Sophie Scott-Brown: Wie im Kalten Krieg in Großbritannien die „gewöhnliche Anarchie“ entdeckt wurde [15]
- Einführung [16]
- Die Vergangenheit und die Zukunft des Anarchismus [25]
- Emotionale Anarchist:innen [38]
- Anarchy [50]
- Fazit [59]
- Literatur und andere Quellen [62]
Ulrich Klemm: Prinzip Freiheit – Für eine Theorie libertärer Vergesellschaftung [71]
- Einleitung – oder: Der Anarchismus ist tot – es lebe der Anarchismus!? [71]
- Anarchie und Anarchismus – Zur Semantik eines ideologisierten Begriffes [75]
- Staat und kulturelle Evolution [78]
- Staat – Macht – Herrschaft [80]
- Ideengeschichte des Egalitarismus [85]
- Anarchismus als Konzept einer Gegengesellschaft und als Organisationstheorie [89]
- Freiheit als gesellschaftliches Prinzip [97]
- Wider die Nation und den Nationalismus [105]
- Sozialgeschichtliche Anmerkungen zur anarchistischen Bewegung [107]
- Gemeinschaft und Föderation [110]
- Egalitarismus als Gestaltungsprinzip kultureller Evolution [119]
- Literatur [121]
2. THEMENSCHWERPUNKT:
ISRAEL UND PALÄSTINA AUS LIBERTÄRER PERSPEKTIVE [133]
Kay Schweigmann-Greve: Zwischen libertärsozialistischem Königtum Gottes und nahöstlicher Realität. Martin Bubers Verständnis von Gesellschaft und Staat und sein Verhältnis zum Staate Israel [135]
- 1. Der Staat als „Kristallisation“ des defizitären Verhältnisses der Menschen zueinander [137]
- 2. Buber und die Zionistische Bewegung [154]
- Bibliographie [172]
Fredy Perlman: Antisemitismus und das Pogrom von Beirut (1982) [175]
Uri Gordon: Anarchismus in Israel – die Herausforderungen der Staatlichkeit und die Dynamik des gemeinsamen Kampfes [199]
- Vorbemerkung [199]
- Unerwartete Komplikationen [202]
- Anarchismus und Nationalismus [205]
- Unterstützung der Staatlichkeit? [210]
- Die Verknüpfung der Themen [215]
- Direkte Aktion [222]
- Alternativen und Friedensarbeit an der Basis [233]
- Fazit [239]
- Literatur [241]
3. THEMENSCHWERPUNKT: PUNK UND ANARCHISMUS [245]
Peter Seyferth: Punk und Anarchismus – Ein seltsames Paar [247]
- Soll ich dazu echt was schreiben? [247]
- Anarchismus [249]
- Ich und Punk und Anarchie, aber hauptsächlich ich [255]
- Wir können auch anders: Anarcho-Punk [264]
- Anarchie-Slogans [268]
- Und jetzt? [274]
- Literatur [276]
Grzegorz Piotrowski: Punk gegen den Kommunismus: Das Jarocin Rockfestival und die rebellierende Jugend im Polen der 1980er Jahre [279]
- Einleitung [279]
- Hintergrund und wichtige politische (historische) Ereignisse [280]
- Die Opposition gegen den Kommunismus [281]
- Frühe Jugendsubkulturen in Polen [283]
- Die wachsende Bedeutung des Jarocin-Rockfestivals [286]
- Der „dritte Zyklus“, „kultureller Anarchismus“ und politische]
- Dissidenz [290]
- Die Reaktionen der Behörden und die politische Bedeutung]
- des Punk-Rock [293]
- Fazit [295]
- Literatur [298]
Mariana Gabriela Calandra: Anarchistischer Punk und post-linker Anarchismus in Argentinien, Chile und Uruguay (1983-1993) [301]
- Einige Definitionen [303]
- Postdiktatur im Cono Sur [307]
- Argentinien [308]
- Uruguay [316]
- Chile [322]
- Schlussfolgerungen [328]
- Literatur [331]
BEITRÄGE ZU WEITEREN THEMEN [335]
Uri Gordon: Der Körper des Leviathans: Die Wiederentdeckung von Fredy Perlmans anarchistischer Gesellschaftstheorie [337]
- Einführung [337]
- 1. Die Ent-Entfremdung in der Praxis [343]
- 2. Von der Theorie zur Parodie [353]
- 3. Anarchistische Praxis und maximalistische Theorie [365]
- Fazit [373]
- Literatur [375]
Stephan Krall: Peter Kropotkin – Anarchist und streitbarer Evolutionstheoretiker [381]
- Fremdsprachen [383]
- Der Wissenschaftler [385]
- Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) [387]
- Charles Darwin (1809-1882) [388]
- August Weismann (1834-1914) [389]
- Kropotkin kannte Weismanns Theorie gut [390]
- Gegenseitige Hilfe [392]
- Die Rolle von Sofia Grigorevna Kropotkin in Peter Kropotkins]
- Forschung [408]
- Fazit [414]
- Literatur [421]
Ewgeniy Kasakow: Nestor Kalandarischwili und die Rolle der Anarchisten auf den ostsibirischen und fernöstlichen Kriegsschauplätzen des Russischen Bürgerkrieges [427]
- Politische Anfänge in Transkaukasien [428]
- Neubeginn in Irkutsk [431]
- Die erste Sowjetmacht [436]
- Anarchisten an der Front, in der Partisanenbewegung]
- und im Untergrund [440]
- Partisanenkampf und Rückkehr der Sowjets [443]
- Postumer Ruhm und Bedeutung für die Anarchismusforschung [448]
- Literatur [449]
Tomás Ibáñez, Amedeo Bertolo und Marianne Enckell: Abschied von den Legenden. Kleines Dossier über die wahren Ursprünge des A im Kreis-Symbols (April 1964 – 2024) [455]
- Wie das A im Kreis entstanden ist: Die Geburt eines Symbols [455]
- Sind die folgenden Aussagen über das A im Kreis RICHTIG oder FALSCH? [459]
- DOKUMENTE: [464]
- DOKUMENT 1a/b (Übersetzung): Die ursprüngliche Argumentation für die Nutzung des A im Kreis als Symbol für den Anarchismus durch die anarchistische Bewegung [466]
- Dokument 2: Erstmalige Verwendung des A im Kreis in der Überschrift eines Artikels von Tomás Ibáñez (1964) [469]
- Dokument 3: Der erste, 2002 erschienene zuverlässige Artikel zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des A im Kreis und seine Übersetzung: Die wahre Geschichte des A im Kreis [470]
Thomas Keith: „Dir, HERR, gebührt die Majestät und Gewalt“ (1. Chronik 29,11). Ein Dialog über Theokratie als Anarchie [477]
- Literatur [487]
REZENSIONEN [489]
- Markus Henning: Der Garten und die Anarchie [490]
- Rolf Raasch: Gläubige ohne Gott, Helden ohne Pathos – Der erste Band der Gesammelten Schriften von Bernd Kramer [495]
- Jan Rolletschek: Frühling der Anarchie: Vergessene Freiheitsdenker im Vormärz [506]
- Stephan Krall: Führt der moderne Staat zur Anarchie? [512]
- Maurice Schuhmann: Anarchafeminismus [521]
- Rolf Raasch: „Bürokratie muss sein“ oder die „Phantasie an die Macht“? [525]
- Stephan Krall: Kropotkins kommunistischer Anarchismus [531]
- Jan Pauls: Jenseits von Staat und Kapital: Anarchistische Visionen einer gerechten Gesellschaft [535]
ANHANG
- Die Autor:innen dieser Ausgabe [541]
- Die Die espero-Mitmachbörse [548]
Diesen Artikel haben wir am 15.12.2024 in unseren Katalog aufgenommen.