Räume des Schreckens
Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933
Von Felix Schnell
Hamburg: Hamburger Edition, 2012 (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts). Klappenbroschur, 575 Seiten, mit 27 Abb., 3 Karten und 3 Tabellen. ISBN 978-3868542448
Beschreibung:
Wie verhalten sich Menschen, wenn der Staat sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen kann, wenn gewohnte Ordnungen zusammenbrechen und die Möglichkeit, sich etwas mit Gewalt zu nehmen, eine Option, wenn nicht für jedermann, so doch für viele wird? Wenn also Gewalträume entstehen, in denen nur das Recht des Stärkeren gilt? Felix Schnell untersucht diese Kultur der Gewalt am Beispiel der Ukraine zwischen 1905, dem Jahr der ersten Russischen Revolution, und 1933, als die sowjetische Herrschaft gefestigt und die Kollektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt war. Seine Analyse des Gewalthandelns der militanten Gruppen und ihrer Anführer offenbart, dass für dessen Entstehung weniger politische Ideologien als vielmehr Möglichkeiten und Anforderungen im Ausnahmezustand ausschlaggebend sind.
Gewalt, so Schnell, ist viel mehr als ein Instrument, mit dem man tötet, verletzt oder sich fremdes Gut aneignet. Sie folgt eigenen Logiken, ist ein Mittel der Machtdemonstration und Kommunikation innerhalb der militanten Gruppe; sie stiftet Gemeinschaft und Identität und gibt Orientierung im Ungewissen. Mit der dichten Beschreibung des Kontinuums der Gewaltexzesse, der die Bevölkerung der Ukraine über einen langen Zeitraum ausgesetzt und in die sie involviert war, leistet die Arbeit einen aufschlussreichen Beitrag zur Diskussion über Ursprünge, Formen und Bedeutung von Gewalt im Zeitalter totalitärer Diktaturen.
Über den Autor:
Felix Schnell, PD Dr. phil., geb. 1970, Osteuropahistoriker, lehrt als Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Einleitung [11]
Das Laboratorium der Gewalt [27]
Voraussetzungen[30]
- Herrschaft unter staatsfernen Bedingungen [30]
- Gewalt als Teil der bäuerlichen Kultur [33]
- Soziale Spannungsfelder und Staatsferne in urbanen Räumen [43]
Die Revolution von 1905 [60]
- Bauernunruhen und -aufstände [67]
- Gruppenmilitanz im Untergrund [71]
- Ein Schüler des Gewaltraums: Nestor Machno [77]
- Pogrome [81]
- Offen auftretende Gruppenmilitanz: Selbstwehren und Milizen [91]
Fallbeispiel: die revolutionäre Miliz von Grisino [104]
- Ein Gouvernement im Ausnahmezustand – Jekaterinoslaw 1905 [105]
- Eine militante Gruppe in ihrem Gewaltraum [110]
- Die Dialektik von Gruppenmilitanz und Gewaltraum [131]
Entgrenzung der Gewalt in Krieg und Bürgerkrieg [145]
Der Erste Weltkrieg als Schule der Gewalt und der Entstaatlichung [147]
- Revolution als »blutiger Karneval« [158]
Der Bürgerkrieg in der Ukraine: makrosoziale Konturen [164]
- Die Revolution in der Ukraine, 1917 bis 1918 [166]
- Die deutsche Besatzung, März bis November 1918 [171]
- Die Ukraine als Schlachtfeld, 1919 bis 1920 [176]
- Der Bauernkrieg, 1918 bis 1921 [186]
Der Hobbesianische Raum aus der Perspektive der Schwachen [191]
Dörfliche Gruppenmilitanz [210]
- Bauern gegen Besatzungstruppen [213]
- Innerdörfliche und zwischendörfliche Konflikte [216]
- Zwei Dörfer im Zwist: Botvinovka contra Bosovka [218]
- Ethnisierung und Politisierung lokaler Konflikte [223]
- Vom Widerstand zur Gruppenmilitanz [238]
Verfestigte und dauerhafte Gruppenmilitanz [245]
- »Reguläre« Kriegführung [246]
- Atamanscina [256]
- Fallbeispiel I: der Ataman Volynec [262]
- Fallbeispiel II: der Ataman Zelenyj [272]
- Exkurs: Antonovscina [281]
Ein Ataman und seine Armee: Nestor Machno [287]
- Vergangene und gegenwärtige Historisierung der Machnovscina [288]
- Eine kurze Geschichte der Machnovscina [290]
Die Machnovscina in kulturhistorischer Sicht [315]
- Charismatische Führung und Machno-Kult [317]
- Gewalt als Qualifikation von Führerschaft [325]
- Fotografische Inszenierungen militanter Vergemeinschaftung [331]
- Exkurs: Frauen in der Machno-Armee [336]
Vergemeinschaftung durch Gewalt [345]
- Gewalt gegen Schwache [345]
- Hinrichtungsrituale [349]
- Gewalt als sinnstiftendes Element einer Kämpfergemeinschaft [352]
- Umrisse einer gruppeninternen Gewaltkultur [358]
Machnovscina – Sonderfall oder typische Erscheinung der Atamanscina [363]
Das Ende der Atamanscina in der Ukraine [366]
Staatsbildung im Gewaltraum [379]
Wirtschaftliche und strukturelle Hintergründe der Kollektivierung [385]
- Dörfliche Spannungsfelder in der NÖP-Periode [386]
- Ambitionen des Staates und ökonomische Realitäten [393]
Der Bürgerkrieg als mentaler Steg [402]
- Stalin und die führenden Bolschewiki [402]
- Das Fußvolk der Partei [408]
- Lebende Tote, anwesende Abwesende – die Macht der Erinnerung [411]
- Gerüchte und Wunschdenken [415]
- Die Angst der Bolschewiki vor neuen Atamanen [418]
- Phantasmagorien à la carte: die Giftküche der OGPU [424]
Der Angriff auf das Dorf [428]
- Die Kollektivierung als Staatsaktion [431]
- Abmessungen von Staatsferne [438]
- Gewalt gegen den eigenen Apparat [449]
Bäuerlicher Widerstand [454]
Militante Gruppen in lokalen Kontexten [465]
- »Banditismus« [472]
- »Gelegenheit macht …« – Ausnutzung lokaler Parteistrukturen [484]
- Machtworte und Zuckungen revolutionärer Gesetzlichkeit [492]
- Wie man die Dorfsolidarität sprengt: »Stepanovka«, Herbst 1930 [497]
- Aktivistenbanditismus – Kleinreiche des Terrors [505]
Herrschaft im »Modus des Überfalls« [513]
- Praxis im Gewaltraum: konkrete Beispiele [518]
- Gewalträume als geschützte Zonen staatsferner Obrigkeit [527]
Fazit: Gruppenmilitanz während der Kollektivierung [532]
Schluss [537]
Danksagung [552]
Anhang [554]
- Glossar und Abkürzungsverzeichnis [554]
- Quellen- und Literaturverzeichnis [556]
Pressestimmen:
»Sein Blick auf die Ereignisse als scheinbar neutralen ›Gewaltraum‹ ermöglicht politisch heute allen Beteiligten aus den alten Konfliktlinien und Rechnungen von Rache und Gegenrache auszusteigen. Insoweit ist Schnells Studie ein gelungenes Beispiel dafür, dass es beim jeweiligen Blick auf die Geschichte und der dazugehörenden Geschichtsschreibung meist um heutige politische Handlungsspielräume geht«
Christoph Villinger, die tageszeitung
»Felix Schnell hat mit diesem Buch eine Studie vorgelegt, die mit ihrer theoriegeleiteten Ausführung wie aufgrund des zu Rate gezogenen Quellenkorpus Maßstäbe setzt für jeden, der sich mit Gewalt und Gewaltgeschichte in Osteuropa beschäftigt. … Insgesamt betrachtet stellt Schnells sehr ansprechend geschriebene und überzeugende Studie einen grundlegenden, innovativen Beitrag zu zentralen Aspekten der osteuropäischen Geschichte im 20. Jahrhundert dar.«
Rudolf A. Mark, H-Soz-u-Kult
Diesen Artikel haben wir am 14.01.2013 in unseren Katalog aufgenommen.