Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution, Band 1
Texte zum gewaltfreien Anarchismus
Herausgegeben und mit einer Einleitung von der Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit.
Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution, 2021. Kartoniert, 202 Seiten. ISBN 978-3939045410.
Beschreibung:
„Gewalt“ ist radikaler, „Gewaltlosigkeit“ eher gemäßigt, so urteilt schnell die öffentliche Meinung, und so sehen das auch Intellektuelle, Aktivist_innen, Politiker_innen. Sie könnten sich sehr täuschen. Wenn es darum geht, zerstörerische Prozesse „an der Wurzel“ zu bekämpfen, kann sich herausstellen, dass „Gegengewalt“ eher ein Problem als die Lösung ist.
Die These „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“ wird – wie schon im ersten Band dieser Textsammlung – durch aktuelle wie historische Beispiele der Kritik an direkter und struktureller Gewalt, auch in sozialen Bewegungen, die sich revolutionär begreifen, verdeutlicht. Solche Kritik wäre nicht möglich, wenn es nicht die Alternative gewaltloser Massenbewegungen gäbe. Und die Erfahrungen dieser Massenbewegungen, aber auch fast vergessener Einzelner und gewaltlos-anarchistischer Strömungen, stärken die Emanzipationsbewegungen in ihrem Willen, sich nicht zu militarisieren und keine neuen Hierarchien zuzulassen.
Einleitung
Von Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit
Gewaltlosigkeit – eine Idee des Anarchismus
Von Rolf Cantzen
Zur Geschichte des Anarchopazifismus
Kriegsverhinderung und Soziale Revolution
Von Sarah Moor
Revolution – gegen die Gewalt
Von S. Münster
Die revolutionären Antworten suchen
Ein Diskussionsbeitrag zum „Manifest für eine gewaltfreie Revolution“ (1972)
Gewaltfrei-revolutionär organisieren
Reflexionen zum Movement for a New Society
Von George Lakey und Betsy Raasch-Gilman
Gewaltkritik in der sozialistischen Frauenzeitschrift „Die Schaffende Frau“
Von S. Münster
Errico Malatesta und der Weg der Revolution
Malatestas Anarchismus zwischen bewaffnetem Aufstand und anarchistischer Gewaltkritik
Von Sebastian Kalicha
Hem Day (1902–1969)
Ein belgischer, frankophoner gewaltfreier Anarchist
Von Xavier Bekaert
Lasst uns gewaltfrei bleiben!
Von Hem Day (1968)
Für ein anarchistisches, gewaltfrei-revolutionäres Gegennarrativ
Eine Kritik anarchistischer Gewaltapologie am Beispiel des Buches „How Nonviolence Protects the State“
Von Sebastian Kalicha
Hinweise zu den Texten, Erstveröffentlichungen und Übersetzungen
Einleitung
Wie radikal ist Gewaltlosigkeit? Und wie gewaltlos der Anarchismus? „Gewalt“ ist radikaler, „Gewaltlosigkeit“ eher gemäßigt, so urteilt schnell die öffentliche Meinung, und so sehen das auch Intellektuelle, Aktivist_innen, Politiker_innen. Sie könnten sich sehr täuschen. Wenn es darum geht, zerstörerische Prozesse „an der Wurzel“ zu bekämpfen, kann sich herausstellen, dass „Gegengewalt“ eher ein Problem als die Lösung ist.
Viele Beispiele auch der letzten Jahre zeigen, dass eine „Verkriegung“ sozialer Bewegungen emanzipatorische Entwicklungen ausschließt oder behindert – etwa die Zerstörung demokratischer Hoffnungen des Arabischen Frühlings in Bürgerkriegen und militärischen Interventionen. Andererseits haben gewaltlose Massenbewegungen Regierungen gestürzt (zuletzt Sudan, Algerien …) und beispielsweise 1989 in einer „friedlichen Revolution“ scheinbar festgefügte Strukturen kollabieren lassen.
Im Gegensatz zu verbreiteten Zuschreibungen ist das Interesse an Gewaltlosigkeit gerade in „radikalen“ sozialen Bewegungen am größten gewesen. So haben anarchistische soziale Bewegungen und besonders einzelne Aktive – ganz im Gegensatz zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung als extrem gewalttätig oder terroristisch – sich häufiger gewaltkritisch verhalten und in einigen sozialen Situationen sich ausdrücklich als „gewaltlos“ beschrieben, explizit gewaltlose Kampfformen gewählt. Es gibt historisch keinen gewaltlosen Liberalismus oder Konservativismus, aber es gibt gewaltlos-anarchistische Konzeptionen. Bei einer Minderheit von Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen wurden historische Erfahrungen der Revolutionen und der Arbeiterkämpfe, Erfahrungen mit Repression und Krieg so verarbeitet, dass sie Befreiung gewaltlos dachten und antimilitaristische Aktionen gegen die bewaffneten Gegner der Revolution forderten, statt sich selbst zu bewaffnen: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution!“
Der Zusammenhang von Zielen und Mitteln prägt bereits die antiautoritär-sozialistische Staats- und Parteienkritik, die Kritik am Zentralismus. Utopien einer Gesellschaft, die durch gegenseitige Hilfe und freie Vereinbarungen gekennzeichnet ist, die sich föderalistisch „von unten nach oben“ organisiert, sind im Widerspruch zu Kampfformen, die auf Befehl und Gehorsam ausgerichtet sind. Umgekehrt gab es bei Gesellschaftskritiker_innen und in sozialen Bewegungen, die sich selbst als „gewaltlos“ definierten (z.B. Tolstoi, Gandhi) zahlreiche Berührungspunkte mit dem Anarchismus. Hier wurde also zuerst über eine „gewaltlose Revolution“ nachgedacht und geschrieben.
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg entstanden auch nach den Erfahrungen der Massentötungen im Zweiten Weltkrieg, den Erfahrungen der Lager und der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki unter Pazifist_innen, Sozialist_innen und Nonkonformist_innen Ideen über eine „gewaltlose Revolution“ gegen die Wurzeln der Massenmorde, die in gesellschaftlichen Strukturen gesehen wurden. Auch die atomare Vernichtungsdrohung während des Kalten Kriegs, die Erwartung eines dritten Weltkriegs veranlasste (allerdings äußerst marginalisierte) Minderheiten darüber nachzudenken, ob nicht ein gewaltloser Aufstand gegen die Vernichtungsdrohung der Ausweg sein könnte.
Nach den Erfahrungen mit der US-Bürgerrechtsbewegung und der Opposition gegen den Vietnamkrieg (als etwa Einberufungsbescheide verbrannt wurden oder die Berrigan-Brüder und andere katholische Ordensleute Akten der Einberufungsämter mit selbstgefertigtem Napalm übergossen) wurde die Idee einer „revolutionären Gewaltlosigkeit“ international verbreitet und einzelne Organisationen legten sich auf ein Programm der gewaltlosen Revolution fest. Diese Gruppen wurden später häufig auch in den ökologischen Bewegungen aktiv und propagierten etwa in den Bewegungen gegen Atomkraftwerke ihre Organisationskonzepte mit Bezugsgruppen und Sprecherräten, um auch in der Aktion nicht-hierarchische Formen der Koordinierung zu ermöglichen. Auch „Training“ für gewaltfreie Aktionen wurde etwa durch das Movement for a New Society (MNS) – eine der revolutionär-gewaltfreien Gruppierungen – „erfunden“ und international verbreitet.
Aktuell stellen sich etwa folgende Fragen: Wie radikal kann, darf, muss Gewaltlosigkeit im Kampf gegen die Klimakatastrophe oder institutionalisierten Rassismus sein?
Wie es schon in einem Text dieses Bandes heißt, wird es Zeit, „die revolutionären Antworten“ auf all die Fragen und Probleme zu suchen, vor denen wir heute (immer noch) stehen – und hier werden diese Antworten wie gewohnt in der gewaltfrei-revolutionären, gewaltfrei-anarchistischen und anarchopazifistischen Theorie, Praxis und Erinnerung an ihre reichhaltige Geschichte gesucht. Wie bereits in Band 1 dieser Reihe, werden auch in diesem Buch wieder Texte zum Thema aus eben dieser Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln versammelt, um ein informatives Bild von unterschiedlichen Aspekten dieser Strömung(en) zu bieten. Ziel ist es, die radikal- und revolutionär-gewaltfreie Perspektive in den sozialrevolutionären Traditionen in Erinnerung zu rufen, sie aufzuarbeiten und aktuellen emanzipatorischen Protestbewegungen publizistisch theoretische wie historische Anknüpfungspunkte und Diskussionsgrundlagen zu bieten.
Historische Nachdrucke, die auch für das Heute besondere Relevanz haben, Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, Texte mit theoretischen, praktischen oder bewegungsgeschichtlichen Zugängen finden sich ebenso in diesem Band wie biografische Betrachtungen von Persönlichkeiten des Anarchismus.
Am Anfang stehen zwei Nachdrucke aus der Zeitschrift Graswurzelrevolution (GWR) aus den 1980er-Jahren. Rolf Cantzen setzt sich theoretisch mit grundlegenden Fragen von Gewalt, Gewaltkritik und Gewaltlosigkeit im Anarchismus auseinander und argumentiert, dass der „Anarchismus (…) als eine politische Theorie (…) in ihren Grundideen Gewaltanwendung ablehnt und aus dieser Gewalt- und Herrschaftsablehnung heraus konstruktive Alternativen zu gewaltsamen und herrschaftlichen Gesellschaftsveränderung anbietet“.
Sarah Moor legt in ihrem historischen Abriss des Anarchopazifismus die Progression von Widerstand gegen Krieg und Militarismus hin zu Konzeptionen der gewaltfreien Revolution dar. Dies impliziert, über die Frage von Krieg und Frieden hinauszugehen, eine umfangreiche Zurückweisung und Bekämpfung von Unterdrückungsformen, wie in der von Moor angeführten Erklärung der Ratssitzung der War Resisters’ International (WRI) aus dem Jahr 1968 formuliert, wo unter anderem von der „Opposition gegen den Krieg und gegen Systeme, die ausbeuten und korrumpieren, nämlich Kapitalismus, Kolonialismus und totalitäre Formen des Kommunismus“ die Rede ist.
Während Moor ihre historischen Ausführungen mit der Gründung der GWR im Jahr 1972 beendet, zeigt der Text von S. Münster, wie die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution in diesen Kreisen in den folgenden Jahrzehnten weitergeführt und intensiviert wurde. Obwohl es „für die Revolution kein Problem [gibt], das je ,gelöst‘ wäre, keine Fehlentwicklung, die nicht nochmals drohen könnte“, so stehe dennoch fest, dass die „Revolution (…) sich ihre Mittel nicht von ihrem Feind vorschreiben lassen [darf]; sie muss ihr Ziel durch ihre Mittel kennzeichnen“, denn dieses Bewusstsein werde „von der Erkenntnis der inneren Probleme revolutionären Handelns“ bestimmt, so Münster.
Auf den Anfang der GWR und die Diskussion in der WRI über ein „Manifest für eine gewaltlose Revolution“ bezieht sich der Text „Die revolutionären Antworten suchen“ (1972). In diesem Beitrag werden viele grundlegende Positionen formuliert, die einem bürgerlich-reformistischen Gewaltfreiheitsverständnis unverblümt eine Absage erteilen und die Möglichkeiten eines revolutionär-gewaltfreien Weges reflektieren. In Band 1 dieser Reihe ist bereits ein Text von Johann Bauer zu diesen Diskussionen erschienen.
Der Autor des eben genannten Manifests, George Lakey, ist auch ein Mitbegründer der bereits erwähnten gewaltfrei-revolutionären Gruppe Movement for a New Society, die in den späten 1970er- und 1980er-Jahren in den Vereinigten Staaten aktiv war. Er und die MNS-Aktivistin Betsy Raasch-Gilman reflektieren in dem Beitrag „Gewaltfrei-revolutionär organisieren“ über diese Gruppe, wie sie begann, welchen Einfluss sie auf soziale Bewegungen hatte und warum sie schließlich aufgelöst wurde. Somit wird hier auch der damals schon recht einflussreichen angelsächsischen Tradition gewaltfrei-revolutionären Aktivismus’ der nötige Platz eingeräumt, um so die Verbindung herzustellen zwischen den sich häufig aufeinander beziehenden Diskussionen und Aktivitäten auf beiden Seiten des Atlantiks. Nicht nur die Erfolgsgeschichten des MNS sind in dem Beitrag ein interessanter Fundus auch für gegenwärtige Aktivist_innen, sondern ebenso die ehrliche und offen geübte Selbstkritik, weshalb die Gruppe letztendlich ihre Aktivitäten einstellte und sich auflöste.
Historisch einen Sprung zurück machen die beiden folgenden Artikel. Nach dem Ersten Weltkrieg, als der Anarchismus eine Blütezeit erlebte, entstand im Umfeld der anarchosyndikalistischen, anarchistischen und antiautoritär-sozialistischen Kreise Deutschlands eine Frauenzeitschrift – „Die Schaffende Frau“. S. Münster analysiert insbesondere die gewaltkritischen und antimilitaristischen Aspekte dieser inhaltlich facettenreichen Publikation, und diskutiert zudem auch, wie die Autorinnen und Autoren damals schon unterdrückerische Rollenbilder und Beziehungsmuster hinterfragten.
Für emanzipatorische Bewegungen ist die Frage nach Zielen und Mitteln der Sozialrevolte entscheidend. Wir untersuchen die Antworten, die ein „klassischer Anarchist“ des 20. Jahrhunderts – Errico Malatesta – gegeben hat. Malatesta war kein gewaltfreier Anarchist. Er hat aber, und das ist der springende Punkt, im Laufe seines Lebens immer wieder gezeigt, dass sich auch nicht-dezidiert gewaltfreie Anarchist_innen äußerst kritisch mit der Gewaltfrage auseinandergesetzt haben, was ihn, auch in seiner Widersprüchlichkeit, zu einer sehr spannenden Stimme in dieser Debatte macht.
Der Belgier Hem Day hingegen ist unbestreitbarer Teil der gewaltfrei-anarchistischen Familie und wird in dem Porträt von Xavier Bakeart vorgestellt. Der Artikel „Lasst uns gewaltfrei bleiben!“ von Hem Day selbst wurde während der Student_innenproteste 1968 verfasst und ist als gewaltfrei-anarchistische Intervention und Diskussionsbeitrag ein ausgesprochen interessantes historisches Dokument. Es zeigt exemplarisch die Rolle auf, die radikale und subversive Gewaltfreiheit in einem historischen Kontext des Aufruhrs und der Rebellion spielen kann.
Den Sprung in gegenwärtige Szenezusammenhänge macht der abschließende Artikel – ähnlich wie Hem Days Text auch eine Intervention -, der sich mit dem Buch „How Nonviolence Protects the State“ von Peter Gelderloos beschäftigt. Diese Schrift ist eine polemische Breitseite gegen jeglichen gewaltfreien Aktivismus und versucht, diesen aus anarchistischer Perspektive zu delegitimieren. Trotz der frappierenden Unzulänglichkeiten in historischer wie theoretischer Hinsicht, blieb dieses Buch über ein Jahrzehnt lang quasi unwidersprochen. Es wurde in der anarchistischen Szene bereitwillig rezipiert – oft genug völlig unkritisch. Warum dieses Werk einer radikalen Kritik aus anarchistischer Sicht bedarf, versucht dieser Beitrag klarzumachen.
Diesen Artikel haben wir am 03.06.2021 in unseren Katalog aufgenommen.